Die Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen ist schief, wenn sie auf mangelnde Gastfreundschaft reduziert wird. Ein Gast ist jemand, der nur eine Zeit lang bleibt und dann wieder geht. Das lässt sich an der Etymologie des Begriffs, also seiner Wortherkunft ablesen. Das mittelhochdeutsche „Gast“ bezeichnet den „Fremden“ und „Fremdling“, das Lateinische geht noch weiter: Die sprachverwandten „hostis“ und „hospes“ stehen beide für den Fremden, bei ersterem schwingt zusätzlich die Bedeutung „Gegner“ und „Feind“ mit. Der Gast ist demnach der Fremde auf der Türschwelle und wird mindestens als potenzieller Feind mitgedacht. Dass das nicht in offene Feindschaft ausschlägt, ist die Aufgabe der Gastfreundschaft. Sie beinhaltet schon wörtlich den Gegenbegriff zum Feind. Sie kann aber nur der Beginn sein, soll der Gast nicht Gast bleiben, also ein Fremder.
Gastfreundschaft bildet – anthropologisch gesehen – einen Grundpfeiler menschlicher Gemeinschaften. Was nicht heißt, dass sie zu allen Zeiten und überall eingelöst wurde. Aber weil der Mensch immer schon mobil war, stellte sich permanent die Frage, wie man mit Fremden umgeht. Wie die Gabe, das Schenken, einem anderen Grundsatz zwischenmenschlichen Austauschs, kann die Gastfreundschaft nicht erzwungen werden, sondern basiert auf einem ideellen Prinzip der Gegenseitigkeit. Irgendwann könnte man ja selbst auf Gastfreundschaft angewiesen sein. Aufgrund dieser zukünftigen Umkehr der Rollen, auf die man keinen Anspruch hat, sich aber wünschen würde, wird Gastfreundschaft nicht allein aus Altruismus heraus gewährt und gilt dennoch als moralische Tugend. Darum ist sie auch in vielen Religionen Gebot: „Vergelte es Gott!“. Sozial-Anthropologen und Ethnologen haben Rituale der Gastfreundschaft auch als erste Schritte zur Integration beschrieben, um den Fremden in einem geregelten Übergang zum Mitglied der Gemeinschaft werden zu lassen.
Der Sinn von Gastfreundschaft besteht nach Friedrich Nietzsche darin, „das Feindliche im Fremden zu lähmen. Wo man im Fremden nicht mehr zunächst den Feind empfindet, nimmt die Gastfreundschaft ab; sie blüht, so lange ihre böse Voraussetzung blüht.“ Das gastfreundliche Willkommen speist sich, will man Nietzsche folgen, aus ursprünglicher Ablehnung, ist zuerst nicht vom Guten bewegt. In seiner Abhandlung „Von der Gastfreundschaft“ denkt sie Jacques Derrida auch in Auseinandersetzung mit Nietzsche als Paradox. Idealerweise müsste Gastfreundschaft bedingungslos sein, weil sonst das erwähnte Prinzip der Gabe verletzt würde. In der Praxis ist sie aber immer an Bedingungen geknüpft, beinhaltet rechtliche und politische Anforderungen an ankommende Fremde. Die bedingte Gastfreundschaft „besagt, dass die Grenzen unter bestimmten Bedingungen bestimmten Exilanten offen stehen.“ Für Derrida ist dieses Paradox unaufhebbar und muss stets neu gesellschaftlich ausgehandelt werden, statt auf die rein philosophische Bedeutung zu pochen. Die Diskussion um eine Willkommenskultur kann also bei der Gastfreundschaft – oder dem Verweis auf „deutsche Gastlichkeit“ – nicht haltmachen. Flüchtlinge sind keine Touristen.
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