Seit Jahren schon kursiert die Vorstellung, Fußball müsse kalkulierbar sein. Wenn nur genug Daten zur Verfügung stünden, müsse sich auch dieses Spiel berechnen und in den Trend der flächendeckenden Prognose (und ggf. Prävention) eingliedern lassen. Seither werden Daten in Unmengen erhoben und Heerscharen von Experten und Analysten arbeiten intensiv. Der kybernetische bzw. informationstheoretische Steuerungsimpuls kann doch vor einem Spiel nicht Halt machen. Und dann kommen ein paar bärtige Isländer und tanzen derbe aus der Reihe.
Der Prototyp des Underdog rockt die Fußball-EM. Schon die Qualifikation war eine Sensation, weil die Niederländer zu Hause bleiben durften. Ob man mit dem Außenseiter sympathisiert oder nicht, ist Geschmackssache. Sicher ist dagegen, dass das Team von der Insel den länger schon aufstrebenden Absichten, Fußball in ein berechenbares Spiel zu verwandeln, eine dicken Strich durch die Rechnung macht. In der deutschen Bundesliga zum Beispiel wird noch die kleinste Regung der Spieler manuell und automatisch erfasst. Die „Data Library der DFL“ enthält unzählige Datensätze, die allen Trainern zur Verfügung gestellt werden. Die Verwissenschaftlichung des Sports ist wahrlich nicht neu, nimmt aber immer weiter Fahrt auf.
Hinter der Praxis, massenhaft Daten zu sammeln und auszuwerten, steckt die Absicht oder die Vermutung, Fußballspiele so exakt wie möglich prognostizieren und letztlich steuern zu können. Die „Fiktion der wahrscheinlichen Realität“ (Elena Esposito), also der Glaube, mit ausreichend Daten die Zukunft voll umfänglich vorhersehbar zu machen und ihr damit den vermeintlichen Schrecken des Ereignisses zu entreißen, macht auch vor dem Fußball nicht halt. Gilles Deleuzes „Kontrollgesellschaft“ zeigt sich also nicht nur mit Blick auf Gesundheit, Kriminalität, Wirtschaft oder Umwelt (Stichwort Ökosystemdienstleistungen). Die Diskussionen um die Torlinientechnik und den Videobeweis verdeutlichen diese Tendenz: Das Spiel mag über weite Strecken wissenschaftlich abbildbar und berechenbar zu sein; solange ein einzelner Schiedsrichter im Rahmen seiner menschlichen Fehlbarkeit alle Kalkulationen über den Haufen werfen kann, wird die auf Daten basierende Modellierung fehlerhaft bleiben.
Für den Fußball und seine Faszination wäre es freilich das Ende, wenn der Ausgang von Spielen abzusehen oder gar zu errechnen wäre. Das Spiel lebt vom Mythos wie kaum ein anderes. Und dass die Verwissenschaftlichung vielleicht hier und da Erkenntnisse bringt, ändert nichts daran, dass sie an der Erfassung der Zukunft beständig scheitern wird. Das zeigen dieser Tage die Isländer. Nichts, gar nichts deutet statistisch gesehen darauf, dass dieses winzige Land auch nur den Hauch einer Chance haben könnte. Gerade einmal etwas mehr als 300.000 Einwohner zählt die Insel. Zieht man von denen alle ab, die schon entlang der groben Eckdaten nicht ins Bild leistungsorientierter Fußballer passen, bleiben nur ein paar Dutzend Leute übrig. Von dieser ersten Beobachtung ausgehend ließen sich, mit guter Recherche, sicherlich einige mehr finden, aus denen hervorgehen dürfte, dass Islands Mannschaft keine Chance hat. Und dennoch.
Vielleicht rührt die Begeisterung für die Truppe um den schwedischen Trainer Lars Lagerbäck auch ein wenig daher, dass sie als Symbol einer nicht regulierten, nicht prognostizieren Zukunft erscheint. Der Einbruch des Ereignisses im sportiven Sinne. Die Isländer symbolisieren gewissermaßen das Moment der Unordnung in einer Welt, die mittels Datenerfassung und Auswertung ihre Zukunft einzupreisen versucht. Dass es am Ende doch immer anders kommt oder zumindest anders kommen kann, ist die frohe Botschaft, die von der kleinen Vulkaninsel nach Frankreich schallt. Dass die Isländer im Viertelfinale stehen, hätte wohl kein Algorithmus errechnet, egal welche Datensätze er hätte durchforsten können.