„Power to the people!“ schallt es gegenwärtig immer wieder als Slogan des Widerstands durch die großen Hallen, wenn Donald Trump seine Wahlkampfauftritte zelebriert. Eine Parole gegen den Milliardär. Am Rednerpult zeigt er dagegen ein herrisches Männerbild, das Stärke und Kompromisslosigkeit suggeriert. Trump, der mit verbalen Entgleisungen seine Distanz zum Establishment markieren und volksnah wirken will, gibt den patriarchalen Herrscher, der die Schwachen in die Mangel nimmt und ungewohnt hart das Recht des Stärkeren proklamiert. Seine Fans, so wirkt es zumeist, laben sich an einer beinahe libidinösen Übertragung: Seine machistische Potenz färbt auf sie ab. Wird Trump gewählt, ist sein Einfluss auch ihrer. Und der Protest gegen dieses antiquierte Bild des starken weißen Mannes formiert sich hinter der „Macht des Volkes“ (people).
In Deutschland dagegen wird der endlos wiederholte Ausspruch „Wir sind das Volk“ in einem ganz anderen Sinn benutzt. Er erklingt als reaktionäre Farce unmittelbar neben „Putin rette uns“ und spielt mit einem Ideal robust geordneter Verhältnisse. Mit ihm wird eine Regierung der weißen Elite verbunden. Ein falscher Link zu 1989 umhüllt den Spruch zudem mit revolutionärem Pathos. Wahrscheinlich stünde Trump, hätte er „deutsches Blut“, auf den Bühnen von Pegida und AfD. Viel weiter auseinander könnten beide Sprüche – „Power to the people!“ gegen Trump und „Wir sind das Volk“ für das Diktat der volksdeutschen Mehrheit – nicht liegen. Und doch agieren beide im Namen des Volkes/in the name of the people.
Allerdings ist das Volk nicht immer „das Volk“ gewesen. Wer genau das Objekt des Regierens darstellt, ist ein alter Streit und von unzähligen historischen Verwerfungen gekennzeichnet. Die Demokratie etwa sei eine schlechte Art der Regierung, argumentierte Platon einst. Das Demos war eine Vielheit, eine Masse von Menschen in einem Verwaltungsbezirk, die vom Geschäft des Regierens nichts verstünden – zu unterschiedlich, selbstverliebt und folglich ungerecht. In Platons langem Schatten galt die Regierung der Vielen lange Zeit als schlecht, weil sie nicht im Sinn des Gemeinwohls und einer guten Entwicklung entscheiden könne. Niemand an der berühmten Wiege der Demokratie hatte eine Idee davon, dieses Demos als natürliche Gruppe, als biologisch verknotete Einheit auf einer angeblich für sie immer schon reservierten Scholle zu verstehen. Vielmehr repräsentierte das Volk die Masse der (männlichen und freien) Stadtbewohner, die nicht zum Adelsstand zählten und denen kein gottgegebenes oder natürliches Privileg zukam. Das Demos in Demokratie kannte im alten Griechenland keine ethnische oder nationale Grenze.
Im deutschen Sprachraum tauchte das Wort Volk erstmals im Mittelalter auf und bedeutete soviel wie „Menge“. Es ist verwandt mit voll, viele oder Pulk. Auch hier spielte eine Blutsverwandtschaft oder eine Logik zur Abstammung noch keine Rolle. Vielmehr setzte sich das Volk aus den „infamen Menschen“ zusammen, aus den Dorf- und Stadtbewohnern ohne staatstragende oder klerikale Position. Das Volk war eine soziale Schicht ohne Rang und Namen. Gott hatte für diese Menschen keinen bedeutenden Platz vorgesehen; und die traditionelle Volkskultur, wie sie etwa Michael Bachtin einzufangen versuchte, hatte nichts mit einer Ethnie oder einer geglaubten nationalen Gemeinschaft zu tun. Das Volk umschrieb die vermeintlich indifferente Menge der Schäfchen, die von Zeit zu Zeit Widerstand gegen ihre Hirten, gegen Staat und Klerus, leisteten.
Noch heute finden sich Spuren eines wenn man so will sozialen Volksbegriffs: Das Attribut populär, das vom lateinischen populus stammt und als Populärkultur keine ethnischen oder nationalen Grenzen kennt – Fußball etwa ist weltweit populär; der Plebs, das niedere ungebildete Volk, das sich dem Klischee nach überall finden lässt; oder der Pöbel, ein Wort, das ebenfalls auf einen Mangel an Bildung und Kultur abstellt, ohne Volksgruppen zu unterscheiden. In der Phrase „das einfache Volk“ wird diese Spur greifbar, die häufig genug abwertend, bisweilen aber als Selbstbeschreibung verwendet wird. Das englische people nahm einen sehr ähnlichen Weg und schleppt immer die Bedeutungen „population“, „crowd“, „mankind“ oder „humanity“ mit.
Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nahm – vor allem in Deutschland – ein biologistisches Denken den Volksbegriff auf und bettete ihn in eine Abstammungslogik ein, die dem Phantasma einer geschlossenen, natürlichen Gemeinschaft nachjagte. Der Kurzschluss von Volk und Abstammung funktionierte nur vor dem Hintergrund von Rassentheorien, weil nur so eine biologische Einheit angenommen werden konnte. Seither überlagert das nationale Volk, die biologische Gemeinschaft den älteren Begriff, der mit Masse, Vielheit und Widerstand „gegen die da oben“ verbunden war. Dieses völkische Denken war allerdings immer schon auf Sand gebaut. Staat und Volk, Regierung und Masse waren nie natürliche Lebewesen, die nur zu sich finden mussten. Vielmehr ist Deutschland das, was die Geschichtswissenschaft als Realfiktion kennt: Eine gedachte Gemeinschaft, die irgendwann Realität wurde, aber kein natürliches Fundament hat. Der Versuch, eine politische Gesellschaft mithilfe biologischer Bildwelten zusammenzubinden, scheitert unweigerlich an der historischen Tatsache, dass es „das deutsche Volk“ und die natürlichen Deutschen nicht gibt und nie gab (genauso wenig wie es den Russen oder den Franzosen gibt). Ethnien und Religionen, Franken, Bayern, Germanen, Slawen u. a., Protestanten, Katholiken, Juden und Heiden, Adel, Klerus, Bürger oder Arbeiter: Deutschland ist ein Gebilde jüngeren Datums, das nie etwas anderes war als Vielheit. Das verbindende Element ist bestenfalls eine Sprache, die jedoch selbst nichts eigentlich Natürliches hat und sprachgeschichtlich nichts anderes ist als ein Derivat vielfältiger sprachlicher und politischer Einflüsse (wie alle anderen Sprachen auch).
Die völkische Schließung bleibt ein irrationales Wunschbild, dessen Übersetzung in Tagespolitik unmöglich ist. Weil die tatsächliche Bevölkerung nie mit dieser imaginierten biologisch homogenen Gruppe zur Deckung kommen kann, weil das Volk immer schon anders war als im völkischen Denken angenommen, versteigt sich der völkische Gedanke gewissermaßen zwangsläufig in Raserei. Selbst wer immer tiefer die Volkswurzel im Sozialen sucht, wird nicht fündig werden, da dieser Ursprung nie dagewesen ist. Ein bitteres Zeugnis dieses Missverständnisses gibt der Nationalsozialismus, der selbst Kinder für „das Volk“ in den Krieg schickte. Völkisches Denken kann also nur um den Preis der Selbstvernichtung Raum greifen, weil es einem Ideal nachjagt, das es nie zu fassen bekommen kann.
Wir haben es also mit zwei völlig unterschiedlichen Volksbegriffen zu tun. Während „Power to the people“ das Recht der Vielen gegen ein Diktat der weißen Oberschicht einfordert, schließt „Wir sind das Volk“ gerade die Vielheit, die Masse oder Menge aus. Dieses „Volk“ pocht zur Zeit mit Vehemenz auf das Privileg der vermeintlich urdeutschen Bevölkerung und verkennt dabei, dass es sich eigentlich um eine Ansammlung von Menschen handelt, die von keinem biologischen Band zusammengehalten wird. Gerade dort liegt dann auch der Unterschied zu 1989: Solange die Demonstranten damals „Wir sind das Volk“ riefen (also vor dem Wechsel zu „Wir sind ein Volk“), sprachen einige im Namen einer unterdrückten Masse und wendeten sich gegen einen diktatorischen Staatsapparat. Heute begehrt eine völkisch tickende Gruppe mit demselben Spruch umstandslos gegen die Vielheit, gegen die Masse, den Plebs oder Pöbel auf. Dass in diesem Kontext viel gepöbelt wird, hat einen ironischen Touch. Die reißerische Kritik am Establishment ist nur Mittel zum Zweck. Es geht um einen Ausschluss all jener, die angeblich nicht zum Volkskörper gehören. Nicht zufällig sind alle Gegner der Bewegung „Volksverräter“, was eine Umschrift für den aus dem Nazionalsozialismus bekannten Volksschädling ist und in die gleiche biologistische Kerbe schlägt.
* Gedruckt erschienen in der Sächsischen Zeitung, 18. Juli 2016.