Lange Zeit galt Auschwitz als Zäsur. Der Holocaust hatte gezeigt, was die „instrumentelle Vernunft“ anrichten kann: Rassismus und ein entfesselter Nationalismus, dessen Größenwahn ungeahnte Folgen hatte. Mittlerweile klingt es im politischen Diskurs anders. Deutschland müsse sich, so ist immer öfter zu hören, vom Diktat der Vergangenheit freimachen, um endlich wieder selbstbewusst auftreten zu können. Eckhard Jesse, seines Zeichens Vorsteher der Chemnitzer Abtei der „Church of Extremism“, will nun auch ein selbstherrliches, ein starkes Deutschland. Sein nächster Schritt dürfte dann die Forderung nach Lebensraum im Osten sein.
Im Januar 2016, also auf dem vorläufigen Höhepunkt einer rassistischen Welle pauschaler Verurteilungen und Anfeindungen, die noch die einfachste Differenzierungskompetenz wegzuspülen droht (und plötzlich problemlos von einem auf alle geschlossen wird), liefert jener Jesse einen Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung. Jesses brauner Anstrich ist nicht neu, und sein mantraartiges Extremismusgefasel, das tatsächlich Gebeten nahekommt (es muss immer und immer wiederholt werden, weil sich die Wahrheit des Gebets nur so bezeugen lässt), hat weite Teile der Gesellschaft wie Tinnitus befallen. Nun allerdings kommt er aus der Deckung und fordert, endlich die historischen Erfahrungen abzustreifen.
Sein Beitrag, überschrieben mit dem Titel „Das Ende der Nachkriegszeit ist in Sicht“, steigt dann auch gleich mit einem Hammer ein. „Als Deutschland zum ersten Mal 1999 mit der Bundeswehr in einen militärischen Auslandeinsatz zog, hiess es bei Befürwortern ’nie wieder Auschwitz‘, bei Gegnern ’nie wieder Krieg‘. Beide Argumentationsmuster […] überzeugten nicht.“ Jesse, mit logischen Kompetenzen offenbar nicht hinreichend ausgestattet, macht also aus dem emphatischen Ausruf „Nie wieder Auschwitz“ eine ganze, nicht überzeugende Argumentation. So etwa sieht dann auch Jesses Ende der Nachkriegszeit aus: Vergeben und vergessen, egal wer, egal was. Auf ein Neues. Auschwitz? Lange her und nicht so wichtig.
Ganz im Duktus eines Björn Höcke spielt Jesse in den folgenden Absätzen den Küchenpsychologen und verkauft den vermeintlichen deutschen Altruismus, den Flüchtlingshelferkomplex, als Kehrseite eines mangelnden nationalen Selbstverständnisses. Höcke sucht bekanntlich die deutsche Männlichkeit, Jesse – möglicherweise altersbedingt etwas weniger phallisch unterwegs – sucht nur ein erigiertes Selbstbewusstsein. Dabei imaginiert er ein Bild von Deutschland, das als Kind mal böse war und jetzt wieder alles gut machen will. Die politische Führung lege verdächtige „Selbstlosigkeit an den Tag“, die das Vertrauen anderer Länder erschüttere. Das alles sei getragen von der heimlichen Altlast Auschwitz, was sich nur kaum einer zu denken oder gar zu sagen traue. Mal abgesehen davon, dass gerade das perfide Argument, die NS-Zeit endlich vergessen zu wollen, seit Jahren ständig zu hören ist, spielt Jesse hier mit einer Metaphorik, die Deutschland als organische Einheit darstellt, dessen Selbstbild sich nicht von einem alten Trauma lösen kann.
Jesse, ganz in alter essentialistischer Manier, macht mal wieder den Bock zum Gärtner. Der Nationalismus sei nicht das Problem, nur seine Überhöhung oder, wie angeblich gegenwärtig, seine Selbsterniedrigung. Restlos ignorant (oder unwissend) gegenüber deutscher Realpolitik, deren „Selbstlosigkeit“ noch zu beweisen wäre, und entgegen der historischen und politikwissenschaftlichen Forschungen der letzten 70 Jahre, glaubt Jesse an einen unschuldigen Nationalismus. Als könne man nicht aus der Geschichte ablesen, wie viel Blut gerade an diesem Konstrukt klebt. Jesse träumt also immer noch von einer idealen Welt, in der jedes Volk seine Scholle hat und befeuert damit indirekt Vorstellungen ethnischer und nationaler Säuberungen, weil nichts anderes diesen Zustand herbeirufen könnte. Dabei ist das nationale Phantasma in Wirklichkeit nur ideologischer Kit, der den Umstand kaschiert, dass es nichts Authentisches, nicht Wahres und Natürliches gibt, auf dem eine politische Gemeinschaft gründen könnte. Die territoriale Geschichte von Ländern im Allgemeinen legt davon ebenso ausführlich Zeugnis ab wie die Sprachgeschichte. Und dass der Nationalismus, gerade weil er nur ein ideologisches Konstrukt ist, ins Aggressive kippt, ist auch keine Neuigkeit. Weil die nationale Verleugnung der Kontingenz nie so recht gelingen will, kehrt sie sich nach außen und sucht den Feind, entweder im Eindringling oder im nationalstaatlichen Widersacher. Selbst François Mitterrand, ohne Zweifel staatstragend, hatte das noch begriffen und deutlich formuliert: „Der Nationalismus ist der Krieg.“
Bleibt noch zu erwähnen, dass sich Jesse einer „Entsorgung der deutschen Vergangenheit“ (Hans-Ulrich Wehler) schuldig macht. Statt zu begreifen, welche Gewalt im nationalen Phantasma steckt, statt also – therapeutisch gesprochen – das Trauma zu aktualisieren und die Gefahr der Wiederholung zu erkennen, plädiert er für den billigen und gefährlichen Weg der Verdrängung. Der ultimative Zivilisationsbruch Auschwitz, begangen von einer imaginierten Nation, ist für Jesse nur ein längst verjährter Unfall ohne Täter, ohne Kontext, ohne Geschichte. Professoraler Geschichtsrevisionismus auf unterstem Stammtischniveau.
P. S. Sich mit Jesse zu beschäftigen, ist lästig, und man kann sich fragen, warum ihm solche Aufmerksamkeit zukommt. Die Frage müsste zunächst an die NZZ gehen. Um die Person jedoch geht es hier nicht. Jesse liefert nur immer wieder Steilvorlagen und zeigt mit einiger Klarheit, wie reaktionär und gefährlich die gegenwärtigen Debatten sind – auch im Gewand der Wissenschaft.