Drehen wir ein wenig an den Begriffen. Aus der universell einsetzbaren Extremismusformel, mit der auf alles geschossen werden kann, was sich politisch bewegt, ist noch der eine oder andere Spaß herauszukitzeln. Ohne größere Kopfstände jedenfalls lässt sich diesem Begriffsapparat, der nie das Niveau einer Theorie erreicht hat, neuerdings ein Bürgerextremismus abringen.
Seit vielen Jahren und unaufhörlich tönen die beiden Lautsprecher der Extremismusformel, Eckhard Jesse und Uwe Backes. Sie und ihre „Theorie“ sind wie Tinnitus. Wann immer etwas Politisches zur Sprache kommt, das den Namen zu verdienen scheint, fiept es, mal lauter, mal leiser. Hinter diesem notorischen Geräusch sind die Inhalte, die Aussagen selbst nicht länger zu verstehen. Wer es wagt, die Strukturen, die formellen und informellen Entscheidungswege zu kritisieren, die Wirtschaftsordnung anzuzweifeln oder dem bestehenden System Mängel in Bezug auf seine demokratischen Eigenschaften zu attestieren, dem wird der extremistische Marsch geblasen. Bis es eben in den Ohren klingelt. Und genau wie sich die Krankheit nicht vertreiben lässt, scheint auch der Zeitgeist nicht heilbar: Die Sortierung der Welt in gut (Status quo) und böse (extremistisch) greift perfekt und erklärt zugleich die politische Struktur der Gegenwart für unantastbar. Sicher auch, weil die Einteilung so herrlich zu massentauglichen Bildern passt. Orks gegen Elben, Jedi gegen Sith, die freie Welt gegen die Schurkenstaaten und eben Demokraten gegen Extremisten. Das ist zwar alles Quatsch, die Wirklichkeit ist tatsächlich viel komplizierter und das Grundgesetz räumt viel mehr Spielräume ein als die Schablone Extremismus erlaubt. Wenn allerdings Wissenschaftler erklären, dass die Dinge so einfach sind, warum sollte sich dann der geneigte Bürger nicht in dieses gemachte Nest setzen? Schließlich fühlt es sich gut an, zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören und die Feinde gut erkennen zu können.
Andererseits wird es mittlerweile einsam um die Wortführer des Extremismus, müsste man meinen. Nun outet sich auch die bürgerliche Mitte, der normale deutsche Endverbraucher zuhauf als extrem oder gar extremistisch – in die eine oder andere Richtung. Wenn die Hasstiraden im Netz von „besorgten Bürgern“ oder „Asylkritikern“ platziert werden, wie sich die Akteure selbst nennen und wie Agenturen, Medien, Politik und Werner Patzelt immer wieder kolportieren, dann haben sich diese Bürger mit dem Extremistenvirus infiziert. „Das Volk“ zieht blank.
Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) fixiert Kriterien, mit deren Hilfe Extremismus zu erkennen sei: Ein „aggressiver Nationalismus, für den nur die deutschen Interessen als Richtschnur gelten“, zählt dazu. Das trifft (übrigens auch mit Blick auf viele Debatten zu Griechenland und seinen Schulden). „Der Wunsch nach einer Volksgemeinschaft“ ist ebenfalls Teil extremistischen Denkens und aus dieser bürgerlichen Mitte gut zu vernehmen. Nicht ohne Grund erlebt der Begriff „Volksverräter“ seinen zweiten Frühling. Mit dem homogenen Volk soll dann die „pluralistische Gesellschaft abgelöst“ bzw. im Osten verhindert werden. Schließlich gesellt sich noch eine „aggressive Fremdenfeindlichkeit“ hinzu, die das Bild des Extremisten abrundet (zum Dokument der bpb). All das trifft auf weite Teile der besorgten Bürger zu, die sich dennoch nie und nimmer als rechtsextrem darstellen würden. Sie gehören dem Vernehmen nach zur Mitte und zeigen mit dem Finger auf die bösen Rechten. Wir haben es also mit einem gemeinen Bürgerextremismus zu tun.
Auch die anderen, die sich mehr oder weniger offen gegen die ausgrenzende Wut und den Rassismus stellen, bewegen sich auf mindestens latent extremistischem Terrain. Vorn marschiert die Antifa, die genauso faschistisch sei wie einst die SA (Hans Michael Platz, CDU); dahinter trotten all jene, die „der Gleichheit eine herausgehobene Position im eigenen politischen Selbstverständnis zuweisen“ (bpb, Dossier Linksextremismus, S. 11). Glasklares Indiz für Extremismus. Überhaupt erfährt das „Agitationsfeld ‚Antirassismus'“ (Bundesamt für Verfassungsschutz) in diesen Kreisen eine ungeheure Aufwertung und birgt für dieses genuin extremistische Thema „ein hohes Maß an Anschlussfähigkeit weit in das nichtextremistische Spektrum hinein“ (ebd.). Der Bürger läuft Gefahr, sich beim extremistischen Antirassismus anzustecken. Dass dabei auch der „demokratische Verfassungsstaat“ (ebd.) und sein praktisches Handeln kritisiert wird, verschärft die Diagnose. Und wenn zu allem Überfluss „eine breite absolute Mehrheit [ostdeutscher Befragter] die praktizierte Demokratie nicht für eine echte Demokratie [hält], weil der Einfluss der Wirtschaft zu groß“ sei und das als unzweifelhaftes Item für Demokratiefeindlichkeit und Extremismus zählt (wie Schroeder/Deutz-Schroeder einschlägig argumentieren1), dann ist auch diese Bürgerkohorte an Extremismus erkrankt. Der sächsische Verfassungsschutz jedenfalls sieht bei den Protesten gegen Pegida und seine Ableger mehrheitlich Extremisten in Aktion. In Leipzig waren das in der Spitze um die 40.000 Leute. „Alle Extremisten“, hält schließlich die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung fest, „erheben den Anspruch unbedingter und uneingeschränkter Richtigkeit ihrer Überzeugungen“. Auch dieses Symptom dürfte auf viele aus dem bürgerlichen Lager zutreffen, die sich unerbittlich gegen ausländerfeindliche Umtriebe und Rassismus stellen.
Kurz: Wir haben es entweder mit völkisch-bürgerlichen Beobachtern zu tun oder mit gleichheitsfanatischen, sozialromantischen Überzeugungstätern (vermutlich heimliche Kommunisten), die es mitunter wagen, ein Demokratiedefizit zu bemängeln. Jeweils greift die Extremismusdefinition. Addieren wir nun zum Bürgerextremismus den linken und rechten, den „Ausländerextremismus“ (was für ein wahnwitziges Wort), den „diskursorientierten Linksextremismus“ (noch so ein Knallerbegriff, mit dem wohl so etwas wie Intellektuelle gemeint sein sollen) und den „islamischen Extremismus“, dann wird es in der demokratischen, nichtextremistischen Mitte einsam.
Das Ganze wäre Satire. Wenn nicht die Rede vom Extremismus selbst, die alle Inhalte übertönt, bereits als Realsatire gehandelt werden müsste.
1 Schroeder/Deutz-Schroeder: Gegen Staat und Kapital – für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie, Frankfurt: Peter Lang Verlag, 2015.