Das antidemokratische Gift der „Extremismustheorie“

Hufeisen-Zaun_Rheingoenheim_01Zugegeben: Für den Moment haben sich die Apostel des Extremismusglaubens durchgesetzt. Der Hass auf alle „Extremisten“ sitzt tief und lenkt beinahe alle politischen Diskussionen. Gerade die Hysterie nach den Krawallen in Leipzig am 12. Dezember 2015 hat erneut vorgeführt, wie dankbar dieses dreist vereinfachende Schema wirkt: Die extreme Linke habe ihr böses Gesicht gezeigt und – so wird es üblicherweise kolportiert – verdeutlicht, wie wichtig eine schroffe Abgrenzung aller „demokratischen“ Kräfte in beide Richtungen sei. Dabei macht die Extremismusformel selbst, die zu Unrecht in den Rang einer Theorie erhoben wurde, der Demokratie den Gar aus. Sie ist antidemokratisch.

Die Krawalle im Leipziger Süden laufen, einige Scheiben gehen zu Bruch, und der Mob bewegt sich zielstrebig auf die Nazidemo zu. Dahinter Hunderte Schaulustige, Interessierte und Sympathisanten. Mitten in diesem Pulk von Beobachtern steht eine Frau mittleren Alters, deren bildungsbürgerliches Outfit vermuten lässt, dass sie sich für linksliberal hält, gern bio kauft und nur leise zweifelt, ob „wir das schaffen“. Überaus erregt schreit sie alle Umstehenden an, sie hasse alle Extremisten, egal ob von links oder von rechts. Das ist erwartbar und vielsagend. Statt die Dinge zu beklagen, die sich unmittelbar vor ihren Augen abspielen, statt gegen Steinwürfe und Barrikaden zu intervenieren, kanalisiert sie ihren Widerwillen in einer pauschalen Abgrenzung zu links und rechts.

Das übliche Bild also. Im politischen Tagesgeschäft überlagert diese Semantik von Mitte und Rändern beinahe alle politischen Diskussionen. Schon im Laufgitter demokratischer Erziehung wird mit viel pädagogischer Emphase davor gewarnt, auch nur einen Schritt zu weit aus der Mitte zu driften. Das hat etwas Pathologisierendes: Links und rechts sind krank, und der gute Bürger kennt den Mindestabstand, um sich von allen Problemen fernzuhalten. Diese Ordnung ist so wirkmächtig wie falsch, weil sie keinen Raum für die Frage lässt, um welche politischen Positionen es eigentlich geht. Homophobie, (kultur-)rassistischer Ausschluss und Antisemitismus etwa haben dann den gleichen Stellenwert wie die substantielle Kritik genau dieser Ausschlussmechanismen. Gerade deshalb kann Sachsens Innenminister auch in die Kamera sagen, dass „Antifaschismus“ keine Antwort auf den NSU sein könne. Kapitalismuskritik (die als solche die Verfassung nicht berührt, weil sie keine Wirtschaftsordnung vorgibt) ist dann genauso extremistisch wie die Vorstellung einer überlegenen Rasse. Ein Beispiel: Wer der Aussage zustimmt, dass es in Deutschland eine tief verwurzelte Ausländerfeindlichkeit gibt, erfüllt, dem „Forscherteam“ Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder zufolge, ein linksextremistisches Einstellungsmuster. Wie es tatsächlich um die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland steht, diskutieren sie jedoch nicht. Allein eine scharfe antixenophobe Haltung reicht, um am linken Rand zu schwimmen.

Die Kritik am Extremismusmodell ist vielerorts vorgebracht worden. Allerdings sind die Einwände gegen das unterkomplexe Hufeisen (das Schaubild der Extremismusformel, das in einem Halbkreis die schmalen Ränder und die breite Mitte darstellt und Politik zur eindimensionalen Sache macht) offenbar immer ein Stück zu kompliziert, um tatsächlich Wirkung zu entfalten. Auf der Suche nach einfachen Erklärungen für eine komplexe Welt hat es sich fest im politischen Denken verankert und gibt dem Bürger das wohlige Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Das Problem ist jedoch, dass mit der „Extremismustheorie“, die sich als Verteidigerin der Demokratie inszeniert, der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wird: Mit der inhaltsleeren Abgrenzung zu allen Extremen verkommt der Begriff Demokratie zum technokratischen Namen für den Status quo.

Demokratie ist jedoch immer schon mehr als nur Wahlen, als ein abgesichertes Spiel von Repräsentation. Platon, einer der Säulenheiligen des westlichen Denkens, verachtet sie als die Unordnung schlechthin, weil möglichst viele mittun sollen und Entscheidungen nicht von denen getroffen werden können, die es vermeintlich am besten wissen. Demokratie war also immer schon jene Bewegung, die den geregelten Ablauf der Dinge durchbricht und jenen Menschen Mitbestimmung verschafft, die zuvor ausgeschlossen waren. Demokratie ist ein Schlachtruf im Namen derer, die keinen oder einen zu geringen Anteil haben. Genauso wie rechtsnationale Positionen, die permanent um Ausschlüsse bemüht sind, ist damit die „Extremismustheorie“ selbst antidemokratisch, weil sie auf eine Statik pocht, die den demokratischen Impuls trockenlegt. Im Extremismusmodell ist immer schon klar, was als demokratisch gelten darf und was nicht. Das ist eine Anmaßung, die dem Begriff zuwiderläuft und die Kämpfe der letzten 200 Jahre mit Füßen tritt.

Ein zweiter Effekt der Extremismusformel zeigt ebenfalls an, dass sie demokratischen Haltungen schwer zusetzt. Weil mit ihr die Inhalte politischer Debatten zur Nebensache werden, weil nur noch der zu vermessende Abstand zur Mitte, zum Status quo relevant ist, werden Verschiebungen der bürgerlichen Mitte unsichtbar. Dass also gerade in Sachsen die bürgerlichen Positionen von ausländerfeindlichen, rassistischen und nationalistischen Tönen durchdrungen sind, verschwindet aus dem Blickfeld politischer Diskussionen. Mittlerweile gibt es zahlreiche Studien, die zeigen, dass die angenommene Mitte von Einstellungsmustern durchsetzt ist, die selbst als extremistisch etikettiert werden müssten (etwa Heitmeyer, Decker/Brähler). Doch solange das Schema die politische Welt sortiert und Mitte und Ränder in einem axiomatischen Gegensatz gedacht werden, vernebelt es den Blick darauf, dass die gute Mitte eine Illusion ist.

Wenn Leute wie Werner Patzelt und Eckhard Esse Pegida und seine Ableger notorisch als nur besorgt-bürgerlich einstufen, hat das mit dieser ideologischen Schere im Kopf zu tun. Was aus der Mitte kommt, kann nicht extremistisch sein, weil es nicht ins Schema passen würde. Die Arbeit vieler Jahre und der Wert unzähliger redundanter Schriften würde zerfallen wie Staub. Rechts sind, in dieser starren Denke, immer die anderen, egal wie nationalistisch, wie ausländerfeindlich und rassistisch die Positionen der vermeintlich bürgerlichen Bewegungen auch sind. Lutz Bachmann, Markus Johnke und Co. machen sich diese falsche Vereinfachung ebenfalls zu eigen, wenn sie sich scharf von allen Extremismen abgrenzen – um dann ihre Feuersalven auf alles zu entladen, was nicht ins volksdeutsche Bild passt. Die „Extremismustheorie“ wirft also eine Nebelbombe, die den Rechtsruck einhüllt, weil er aus der bürgerlichen Mitte kommt und damit nicht rechts sein kann. Das ist dämlich, funktioniert aber.

Diese Logik spiegelte sich besonders deutlich in der politischen und medialen Raserei nach den jüngsten Ausschreitungen in Leipzig. Bei aller Kritik an solchen Krawallen – die Reaktionen darauf glichen selbst einem verbalen Gewaltausbruch. Endlich, so schien es, konnte mal wieder der nötige Abstand nach links betont werden, der eine brüchige und gefährlich nach rechts tendierende Mitte retten soll. Man kann es sich vielleicht so vorstellen: Um das Gleichgewicht zu halten, wenn die Mitte nach rechts kippt, bedarf es einerseits einer verharmlosenden Sprache für jenes Zentrum: „besorgte Bürger“, „Asylkritiker“ etc. Andererseits muss der linke Rand schwer beladen werden, damit nicht das ganze Konstrukt nach rechts umfällt. Dann haben wir es nicht mehr mit Krawallen zu tun, sondern mit „Straßenterror“, mit „Krieg“ und einem „abgebrannten Viertel“. Die verbalen Ausfälle im Nachgang, die mit den Ereignissen nicht mehr viel zu tun hatten, erfüllen also ihre Funktion: Sie halten den falschen Glauben an eine gute Mitte aufrecht und verdecken den reaktionären Shift.

Hinter dieser bitteren Komödie unterkomplexer Theorie wird es allerdings eng für die eigentliche Demokratie, für Impulse politischer Emanzipation und Diversität. Patzelt, Backes oder Jesse, also die Advokaten der als Theorie missverstandenen Begriffskaskade werden sich womöglich irgendwann vorwerfen lassen müssen, mit ihrer Austrocknung aller politischen Inhalte einem düsteren Zeitalter den Weg bereitet zu haben. Sie leisten einem rechtsnational-autoritären Umbruch Vorschub und geben einer Demokratie, die mehr sein will als Zustimmungswahlen, das Grabgeleit. Sie haben ein Denken etabliert, das es erlaubt, im Namen der bürgerlichen Mitte rechtsnationale und bis zur Gewalttätigkeit ausgrenzende Einstellungen zu vertreten. Das kann man beinahe jeden Montag beschauen, wenn sich „besorgte Bürger“ versammeln, die explizit mit der „Extremismustheorie“ auf alles Extreme schimpfen und sich für demokratisch halten, wenn sie einer reinrassischen Volksgemeinschaft nachjagen.

    1. Aus der „Mitte-Studie“ der Uni Leipzig von 2014: „Die diesjährigen Ergebnisse dokumentieren erneut, dass rechtsextreme Positionen bei den Anhängern sämtlicher politischer Parteien nachweisbar sind, und dass auch die Wählerschaft der großen Parteien SPD und CDU davon nicht ausgenommen ist. Die stärkste Anziehungskraft bei den Wählern mit einer ausländerfeindlichen, antisemitischen und chauvinistischen Einstellung haben die AfD und die rechten Parteien. Wer ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild hat, neigt eher der CDU/ CSU oder der SPD zu oder gehört zur Gruppe der Nicht-Wähler.“

      Allein das müsste logisch dazu führen, den Begriff Extremismus zu den Akten zu legen.

      1. Eine ziemlich klare. Wenn die bürgerlichen Parteien der vermeintlichen Mitte Einstellungsmuster (Antisemitismus, Homophobie etc.) aufweisen und aufnehmen, haut es mit der einfachen Unterscheidung von guter Mitte und bösen Rändern nicht mehr hin. Das ist übrigens in der Forschung mittlerweile common sense (außer bei den Freaks des Extremismusglaubens) und lässt sich empirisch deutlich zeigen. Es braucht (und gibt) feinere und präzisere Begriffe, um politische Einstellungsmuster zu beschreiben. Extremismus als Begriff ist nicht in der Lage zu differenzieren.

      2. Schon seltsam: Ausgerechnet die Sprachkritiker merken nicht, dass es ein logischer Widerspruch ist, wenn eine Quelle, in der von Extremismus die Rede ist, als Beweis angeführt wird, dass es keinen Extremismus gibt.

      3. Nein, daran ist nichts unlogisch. Bitte denken Sie erst nach. Die Quelle ist in sich unlogisch oder begrifflich unscharf und zeigt daher, dass die Begrifflichkeit nicht funktioniert. Und darauf verweisen wir mit dem Zitat. Den Autoren der Studie ist das übrigens durchaus bewusst.

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