Seit Monaten wettern besorgte Bürger und andere Reaktionäre gegen die Zensur, die scheinbar auf allen Ebenen um sich greife. Mit Blick auf den öffentlichen Sektor – auf Print, Funk und Fernsehen also – ist die Absurdität des besorgten Gebrülls hinlänglich belegt worden. Man schreit „Lügenpresse“ und zitiert beliebig Bild, Welt oder Focus, wenn das Ressentiment bedient wird; man nutzt öffentliche Räume und legale Demonstrationen, um davon zu faseln, dass Meinungen nicht offen ausgedrückt werden dürfen. Weil das offenbar seinen Effekt zunehmend verliert, verschiebt sich die Debatte nun immer wieder auf eine angeblich diktatorische Selbstzensur. Die Ideologie der political correctness habe den Leuten böse zugesetzt, sodass sie sich selbst zensieren. Dahinter verbirgt sich ein gefährlicher Drang zur politisch-pornographischen und aggressiven Enthemmung. Dabei ist Selbstzensur selbstverständlich und mitunter eine gute Sache.
Die „politische Korrektheit“ werde den Leuten immer weiter aufgedrängt, und wir könnten dagegen nur ankommen, wenn wir immer weiter unverhohlen unsere Meinung sagten. So jedenfalls sieht Cati Bundesmann von der „Jungen Alternative“ die Welt. Mit – und das ist wirklich bitter – Verweis auf George Orwells „Neusprech“ fabuliert sie von vehementer Indoktrination, die Böses in harmlosen Worten ausdrückt. Obwohl ihre Beispiele das Kind mit dem Bade ausschütten („kritische Bürger“ heißen „Aluhut-Träger“ oder „Nazis“, „illegale Einwanderer“ nennt man „Neuankömmlinge“), bleibt ihre Verbitterung ob der Selbstzensur der Leute. Es brauche eigentlich keinen zensierenden Staat, weil das die Leute schon selbst erledigen, indem sie die Dinge nicht in voller Schärfe als das benennen, was sie angeblich sind.
Abgesehen vom Umstand, dass Bundesmanns angenommene rhetorische Zurückhaltung kaum zu erkennen ist, vertauscht sie – und mit ihr AfD, Pediga und Co. – Selbstzensur mit restloser Enthemmung. Auch wenn die Praktikantin der AfD mit deutlichem Stolz über Sprache redet, hat sie deren Funktionsweise genauso wenig verstanden wie die Gefahren. Unter dem Deckmantel der Selbstzensur geht es eigentlich um einen Deutungskampf, der entlang unterschiedlicher Begriffe geführt wird. Wenig überraschend steht Bundesmann beständig dafür ein, alles Fremde und im eigenen Weltbild „Uneigene“ möglichst offen als kriminell und gefährlich zu bennen. Geflüchtete Menschen als Fachkräfte zu bezeichnen, ist ihr ein derbes Übel, selbst wenn der Sarkasmus aus allen Poren tropft. Sie selbst hält diese Bezeichnung für „Neusprech“. Dass Geflüchtete durchaus Fachkräfte sein können, dass also die Gruppe derer, die für Bundesmann den Verfall in die heile deutsche Welt gebracht hat, in sich heterogen ist, soll mit aller Macht verschwinden.
Die als Ende der Selbstzensur getarnte Logik der brutalen Vereinfachung wird noch an einigen weiteren Wörtern durchgespielt, ganz im mittlerweile so vertrauten Ton besorgter Bürger. Dabei ist der Modus immer gleich. Sobald die Sprache nicht die Gefahr des Fremden, die stasimäßige Bösartigkeit des Systems und die Opferrolle der Volksdeutschen benennt, sprechen entweder „linksversiffte Systemlinge“ oder die Selbstzensur hat einmal mehr das Ruder übernommen. Hinter diesem Modus steht jede Differenzierung genauso zurück wie alle Vorsicht oder Zurückhaltung, wenn es darum geht, Menschen in Schubladen zu verfrachten – vor allem dann, wenn auf diesen Schubladen diskriminierende Namen stehen.
Soweit ist die Geschichte nicht neu. Der Bezug zur Selbstzensur allerdings bringt eine neue Färbung mit. An der Oberfläche spielt der Begriff und seine besorgt-bürgerliche Verwendung damit, dass Leute Angst hätten, „ihre Meinung“ zu sagen, selbst wenn sie diese beständig in jede sich bietende Kamera poltern. Darunter liegt jedoch die Logik der Enthemmung, die mit einiger Penetranz darüber hinwegtäuscht, dass Selbstzensur ständig ihre oft genug wünschenswerte Funktion erfüllt. Man stelle sich vor, Pegida-Spaziergänger würden sich nur für einen Montag nicht im Zaum halten und restlos enthemmt über ihre Mitläufer, ihre Gedanken und Phantasien offen und unzensiert Rapport liefern. Noch eine schaurige Vision: Taddl Festerling, deren libidinöse Obsessionen an sich schon offensichtlich sind, lässt die Zügel locker und redet frei über alles, was ihr durch Mark und Bein fährt.
Um die Not der Selbstzensur zu erkennen, braucht es dabei den Blick auf die neuen Volksdeutschen nicht. Ziemlich viele Beziehungen und wohl die meisten Büroetagen wären umgehend im bitteren Streit verbunden, würde nicht die alte, lange schon kulturell hochgeschätzte Selbstkontrolle die Worte abwägen und die Aussagen begrenzen. Nicht jeder Gedanke ist für jeden bestimmt, und Höflichkeit ist seit Jahrhunderten eine Tugend. Dass Gedanken mitunter schmutzig sind und kulturelle Codes und Regeln sie in Grenzen halten, mag hier und da an Grenzen stoßen und problematisch werden. Für sich genommen ist gerade das eines der ältesten Prinzipien dessen, was sich hinlänglich Kultur nennt. Zurückhaltung ist auch deshalb angezeigt, weil es fast immer schwierig ist, Urteile zu fällen, selbst wenn der Eindruck oder das Gefühl eine Richtung weist. Was weiß ich vom Proll, der um die Ecke kommt, oder von der Tussi, die den Weg entlangstolziert? Das schnelle Urteil zu kontrollieren und nicht zu werten, ist eine alte Tugend. Dass schließlich gerade um ihre Kultur Besorgte wie Bundesmann und ihre Partei der Enthemmung das Wort reden, ist wie so oft die Ironie der Geschichte.