Zur Macht von Überschriften
Die Sache mit der Demokratie ist eigentlich ziemlich kompliziert. Im alten Griechenland galt sie eher als verpönt und war ein Name für den Versuch der Ausgeschlossenen, bei der Gestaltung der Gesellschaft, bei der Verteilung der Güter usw. mitzutun. Mittlerweile wurde das demokratische Prinzip auf Wahlen eingedampft, bei denen im Wesentlichen stromlinienförmige Kandidaten mit hauchzarten Unterschieden um die Gunst des Volkes buhlen und bei denen die Ausgeschlossenen (etwa Geflüchtete) gerade keine Stimme haben. Doch die Abwicklung des Politischen zugunsten einer oligarchischen Verwaltung des Reichtums hat eine weitere Hürde genommen. Dies offenbart sich bisweilen in Überschriften.
Im Sommer 2015 diskutierte die SPD (für einen kurzen Moment ehrlich zu sich), ob sie ihre mittlerweile eingeübte Rolle als Steigbügelhalter der neoliberalen Institutionen annehmen und keinen Kandidaten für das Kanzleramt in den Ring schicken solle. Warum auch? Etwas wirklich ändern wollen die Genossen schon länger nicht mehr. Es gab zwar in der Tat unterschiedliche Positionen zur Kanzlerfrage. Man darf aber getrost vermuten, dass die Kritiker des Vorschlags mehrheitlich einen Imageschaden befürchten und weniger darum besorgt sind, Merkels Politik vier weitere Jahre mittragen zu müssen. Andererseits hat die SPD einen wahrlich gefühligen Moment gezeigt. Schließlich wird man den Eindruck nicht los, die nächste Wahl sei eigentlich schon ausgezählt. Jedenfalls lassen das die Pressereaktionen vermuten, nachdem sich vage abgezeichnet hatte, dass die „eiserne Kanzlerin“ (Bild) 2017 erneut kandidieren werde. Die Dresdner Morgenpost etwa titelte: MERKEL MACHT WOHL WEITER!, als wäre die Sache bereits in trockenen Tüchern. Dass sich hinter dieser Überschrift ein eher sachlicher Text zur Kandidatenkür verbirgt, gerät anlässlich dieser Headline zur Nebensache; genauer: Sie wird von einer anderen Deutung buchstäblich überschrieben. Mit aller Selbstverständlichkeit wird hier die folgenschwere Annahme untergeschoben, dass das Rennen bereits gelaufen sei. Womit, muss man schließlich Fragen, sollte die Kanzlerin sonst weitermachen, wenn nicht mit dem Regieren? Mit einer Kandidatur kann sie nicht fortfahren. Und das setzt freilich voraus, dass sie – und mit ihr die CDU/CSU – erneut gewählt wird. Das eingeflochtene „wohl“ reißt die Kohlen auch nicht aus dem Feuer. Es spielt nur damit, dass es sich noch ein wenig um Kaffeesatz handelt, der ausgelesen und breitgetreten wurde. Die Königin von Deutschland hat ihren Verbleib auf dem Thron nur noch nicht offiziell verkündet.
Die gemeinhin für etwas seriöser befundene ARD überschrieb ihre Meldung zum selben Thema mit Merkel plant offenbar vierte Amtszeit. Auch in diesem Fall folgt der Überschrift eine vergleichsweise nüchterne Meldung. Verräterisch ist der Titel allerdings dennoch, weil er – sachlich falsch – nicht auf die Planungen für einen neuen Wahlkampf hinweist, sondern freizügig unterstellt, die Kanzlerin würde bereits Schwerpunkte ihrer nächsten Amtszeit sondieren. Und die Wahlen dazwischen? Nur lästige Pflicht. Der Tagesspiegel bläst, ebenfalls eher beiläufig und damit um so auffälliger, ins selbe Horn und fragt: „Macht die Kanzlerin weiter?“ Dahinter verbirgt sich – wie andernorts auch – eine Wasserstandsmeldung zu Merkels Planspielen. Die Frage allerdings ist suggestiv. Sie spielt damit, dass Merkel es unumwunden selbst in der Hand hat, ob sie denn weitermacht oder doch ihre Krone freiwillig ablegt. Dass zwischendurch ein vermeintlich urdemokratisches Theater aufgeführt wird, in dem sich der nur noch formale Souverän (das Volk) zu Wort meldet, gerät geflissen zur Nebensache. Stimmt schon, es muss noch gewählt werden. Aber wer spielt ernsthaft mit dem Gedanken, dass die Dinge sich anders entwickeln könnten? „Merkel wird 2017 erneut Kanzlerin“ ist schließlich auch N24 überzeugt. Dabei handelt es sich zwar nur um die Überschrift für einen kurzen Text, der Umfrageergebnisse kolportiert. Allerdings verkehrt auch hier die Überschrift den Sachverhalt: Einer Umfrage zufolge glauben viele Wähler daran, dass Merkel auch nach der nächsten Wahl auf ihrem Thron sitzen bleiben wird. Das allerdings hat wenig mit der klaren Behauptung zu tun, die N24 dem Text voranstellt.
Die Disbalance zwischen Überschrift und Inhalt ist nicht banal. Die Verdichtung des Textes in wenigen Worten weist die Richtung und legt eine Deutung ab, hinter der die Sache selbst beständig zurücksteht. Headlines nähren also unauffällig aber effektiv das, was Roland Barth den Mythos nannte. Hinter der eigentlichen Meldung verbirgt sich bereits ein zweites, eher fiktionales Konstrukt, ein Glaubenszusammenhang. Die Pressereaktionen zu Merkels Überlegungen sind so gesehen geschwätzig und verraten, dass die nächsten Wahlen nur noch als Zustimmungsritual antizipiert werden. Die postdemokratische (ja, ein schwieriger Begriff) Verwaltung der Verhältnisse ist auf dem besten Weg, und der demokratische Widerstreit wird zur bloßen Zustimmungspflicht. Die Medien jedenfalls leben eine solche Haltung allzu gern vor.